[de] AUF AUGENHÖHE Gegen den identitären Autoritarismus [traduzione in tedesco di “Da pari a pari”]Riceviamo e diffondiamo:
PDF: Auf Augenhöhe. Gegen den identitären Autoritarismus
AUF AUGENHÖHE
Gegen den identitären Autoritarismus
Wir sind einige anarchistische Gefährten und Gefährtinnen, die an der
Versammlung „Sabotiamo la guerra“ teilgenommen haben. Mit diesem Schreiben
wollen wir uns zu einem schlimmen Vorfall äußern, der auf unserer Versammlung
passiert ist (wenn auch nicht der einzige dieser Art, so war er doch der
schwerwiegendste), aber vor allem zu einer Forma mentis und einer Ideologie, die
solche Vorkommnisse systematisch begünstigen. Wir präsentieren uns nicht aus
freien Stücken auf diese eingeschränkte Weise, sondern weil „Sabotiamo la
guerra“ eine Versammlung ist, die von Zeit zu Zeit von den Teilnehmenden
gestaltet wird. Wir können nicht im Namen aller zahlreichen vergangenen,
gegenwärtigen und zukünftigen Teilnehmenden, sprechen. Fangen wir nun an, uns zu
erklären.
Vom 11. bis 13. Oktober 2024 sollte in der Villa Occupata in Mailand die von
unserer Versammlung organisierte dreitägige Diskussion Sfidare la vertigine [Den
Vertigo herausfordern] stattfinden. Sie war eben einigen der
schwindelerregenden, aber unausweichlichen Fragen gewidmet, die die Gegenwart
aufwirft (angefangen bei denen, die mit dem Krieg zusammenhängen, der nicht mehr
und nicht weniger als den historischen Horizont darstellt). Die „drei Tage“
wurden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben und schließlich sogar abgesagt,
weil einige Besucher (wir betonen: einige) der Villa einem Gefährten, der an
diesem Pfad teilnimmt, der Vergewaltigung bezichtigten und der Versammlung
vorwarfen, ihn zu unterstützen. Es wäre für uns einfacher und bequemer gewesen,
diese Geschehnis zu ignorieren und wie bei anderen Gelegenheiten weiterzumachen,
als es ähnliche Versuche gab, unsere Veranstaltung wegen der Anwesenheit dieses
Gefährten zu vereiteln. Stattdessen sagte uns unser Gewissen, dass wir uns
äußern sollten. Da wir die Dynamik kennen, die zu dieser schwerwiegenden
Anschuldigung geführt hat, und gute Gründe haben, sie für unbegründet zu halten,
empfinden wir es als echte Ungerechtigkeit, dass diese Gerüchte weiter
kursieren, ohne dass jemand etwas dazu sagt. Eine Ungerechtigkeit gegenüber
unserem Gefährten und dann gegenüber unserer Versammlung. Als wir gemeinsam
darüber nachdachten, wurde uns klar, dass es unmöglich ist, das Thema
anzusprechen, ohne auf die ideologischen, ethischen und mentalen Voraussetzungen
einzugehen, die diesem Vorfall zugrunde liegen. Dies hielten wir bereits für
notwendig. Die Anschuldigung gegen den Gefährten ist in der Tat sehr gravierend,
aber leider kein Einzelfall. Es ist zur gängigen Praxis geworden – sowohl in
„antagonistischen“ Kreisen als auch in weiten Teilen der Gesellschaft –, dieser
oder jener Person bzw. dieser oder jener Gruppe schändliche Schuldzuweisungen
vorzuwerfen, die gelegentlich mit der sexuellen Sphäre, den Beziehungen zwischen
den Geschlechtern oder sogar mit der allgemeinen „Dynamik der Macht“ in Bezug
gebracht werden. Es wird nicht die Möglichket gegeben Argumente zu nennen, und
es wird niemanden – sei es der in den Fokus gerückten Person oder anderen – die
Möglichkeit gegeben, die Stichhaltigkeit der erhobenen Vorwürfe zu diskutieren
oder gar selbst zu beurteilen, wie man damit umgehen soll, wenn sie sich als
angeblich begründet erweisen. Darüber hinaus haben wir den Eindruck, dass eine
bestimmte Mentalität und Ideologie – die wir aus Gründen, die im Laufe der
Lektüre deutlich werden, als „identitär“ bezeichnen – seit Jahren eine Reihe von
Dynamiken hervorruft, die weit über den Bereich der Sexualität und der
zwischenmenschlichen Beziehungen hinausgehen, und dass wir – zumindest was uns
betrifft – viel zu lange damit gewartet haben, unsere Kritik zu äußern (aber
besser spät als nie). Diese Überlegungen haben zu diesem Text geführt, der
sowohl ein Akt der Anprangerung als auch ein Beitrag zu einer Debatte sein soll,
die weit über die spezifische Angelegenheit hinausgeht, aus der er entstanden
ist. Wenn diese Art von Problemen immer mehr Welten entzweit und in unserem Fall
auch zur Entsolidarisierung gegenüber Realitäten die stark stark von Repression
betroffenen sind, haben die zugrunde liegenden Ideologien unserer Meinung nach
noch tiefere, zutiefst schädliche Folgen. Daher ist es notwendig, all dies auch
aus der Perspektive zu betrachten.
Auf die Anschuldigung selbst wollen wir hier nicht eingehen. Bestimmte
Tatsachen, die, wie man sagt, „heikel“ (und auch aus strafrechtlicher Sicht
potenziell sensibel) sind, müssen an geeigneter Stelle und zu geeigneter Zeit
behandelt werden – zumindest, um den Bullen und den Schreiberlingen keinen Stoff
für Spekulationen zu liefern. Wir sagen lediglich, dass wir uns nicht mit
unserem Gefährten organisieren würden, wenn wir ihn für einen Vergewaltiger
halten würden. Es wird angedeutet, aber wir sollten es explizit machen: Sowohl
wir als Autoren dieses Texts als auch der direkt vorgeworfene Genosse sind
bereit, uns mit jedem, der uns dazu auffordert, von Angesicht zu Angesicht zu
konfrontieren. Wir haben jedoch viel zu sagen über die Art und Weise, wie solche
Anschuldigungen zunehmend erhoben werden, über die Mentalität, die
dahintersteht, und über die Konsequenzen, die sie nach sich ziehen.
Da wir auch der Meinung sind, dass wir zuhören müssen, wenn jemand angibt,
Gewalt erlitten zu haben, kann dies kein Alibi dafür sein, die Tatsachen nicht
als das zu betrachten, was sie sind (oder, bescheidener ausgedrückt, als das,
was sie für uns arme Sterbliche zu sein scheinen), oder dafür, eine Person in
Verruf zu bringen, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, zu antworten. Wir sind
hartnäckig der Meinung, dass jeder, der schwere Anschuldigungen gegen jemanden
erhebt – sei es, dass jemand einen sexuellen Übergriff begangen hat, Geld aus
einer gemeinschaftlichen Kasse gestohlen hat oder ein Verräter ist –, die
Verantwortung für das, was man sagt, übernehmen und mit klaren und begründeten
Argumenten untermauern sollte, und zwar an einem angemessenen Ort und zu einem
angemessenen Zeitpunkt. Dass auch dieses Mal der Moment der Gegenüberstellung
verpasst wurde, scheint uns ganz klar das Produkt einer Mentalität zu sein, die
die Bedingungen an die Stelle der Tatsachen und die Opferrolle an die Stelle von
Denken setzt. Da das Problem nicht trivial ist, müssen wir es angemessen
betrachten.
Durch die Vermittlung eines als intersektionaler Feminismus bezeichneten
Ansatzes ist eine aus Übersee stammende Ideologie zu uns gelangt, die etwa wie
folgt lautet: Die Vorstellung, wir seien freie und gleiche Menschen, die
versuchen, hier und jetzt so weit wie möglich Beziehungen der Gegenseitigkeit zu
erleben („Was du machen kannst, kann ich auch, und umgekehrt“), ist nichts als
ein altes humanistisches Märchen. Da wir in diesem permanenten Krieg, den wir
Gesellschaft nennen, in Wirklichkeit ungleich sind – durchzogen, oft ohne es zu
merken, von einer Übermachtdynamik, die sich um die Linien des Geschlechts, der
Hautfarbe, der körperlichen oder intellektuellen Fähigkeiten, des Alters usw.
dreht –, müssen wir wach und wachsam sein (woke, amerikanischer Slangausdruck
für „awake“), um all die Gewaltakte zu erfassen, die ständig unsichtbar sind,
und in die menschlichen Beziehungen eingreifen, um das verlorene Gleichgewicht
wiederherzustellen. Dies soll einerseits durch eine permanente Moralisierung des
Verhaltens erreicht werden (beginnend mit der bekannten Besessenheit von der
Benutzung der Sprache), vor allem, wenn sie von denjenigen «ausgeübt» wird, die
ein gewisses «Privileg» haben (oder haben sollten), d. h. einen zusätzlichen
Anteil an sozialer Macht. Andererseits sollen denjenigen, die sozial weniger
haben, mehr Macht gegeben werden. (Mit diesen „Kriterien” schlugen einige
Feministinnen vor einigen Jahren in den Vereinigten Staaten vor, die Wahlstimmen
von Frauen und Afroamerikanern doppelt zu gewichten). Der Hintergrund und –
gleichzeitig – die Folge dieser Art von Vision ist die postmoderne Philosophie.
Wenn die faktische Wahrheit nicht existiert oder jedenfalls nicht gefunden
werden kann, wird das einzige „Kriterium“, um sich zu orientieren und über
Geschehnisse zu entscheiden, die nicht aufhören, sich zu ereignen, das
emo-partisanische Festhalten in Hinblick auf derjenigen, die als «unterdrückter»
erachtet sind. Die Wahrhaftigkeit der Tatsache wird durch die Zugehörigkeit zu
einem bestimmten Subjekt ersetzt.
Eine umfassende Kritik dieser Ideologie zu formulieren, würde lange dauern und
ist hier nicht möglich. Eine ihrer ersten Folgen ist jedoch bereits jetzt
offensichtlich: die endlose Balkanisierung der Menschheit. Wenn es keine
Möglichkeit der Diskussion zwischen Gleichen gibt, weil unsere Erfahrungen und
damit unsere Standpunkte ungleich sind, kann das Ergebnis nur ein Krieg aller
gegen alle sein, der von mehr oder weniger prekären Allianzen geprägt ist.
Daraus folgt: Da es im postmodernen Universum keine Werte mehr gibt, sondern nur
noch einen Unwert – nämlich mit vermeintlicher Gewissheit etwas zu behaupten –
gewinnt nicht derjenige die Konfrontation, der die überzeugendsten Argumente
oder unumstößlichen Fakten vorbringt, sondern derjenige, der seinen identitären
Status als „Opfer“ am besten zur Schau stellen kann und über genügend
akademische Literatur (sogenannte «Studies») verfügt, um als solches anerkannt
zu werden.
Diese Ideologie mag manchen als ultra-libertär erscheinen, uns scheint sie
jedoch eher der Träger eines Autoritarismus zu sein, der umso gefährlicher ist,
je mehr er sich hinter seiner vermeintlichen postmodernen Schwäche versteckt.
Zwar ist offensichtlich, dass diese Positionen jede Möglichkeit der Reziprozität
zwischen konkreten Individuen aufheben (was du tun kannst, kann ich auch tun, d.
h. mein Wort ist so gut wie deins), doch bringen sie auch die Ideologie des
Subjekts durch die Hintertür herein, die der Anarchismus schon lange durch die
Vordertür hinausgeworfen hatte. Stirner, der voraussah, dass «die Religion der
Menschheit» bald ihre Priester und Bürokraten hervorbringen würde, schrieb
bereits 1844, dass er auf der Seite der Proletarier stehe, sich aber weigere,
«ihre schwieligen Hände zu sakralisieren». Heraus aus der Metapher stellt
Stirner fest, dass man, wenn man den Zustand der Unterdrückung anerkennt, unter
dem die Proletarier leiden, es tunlichst vermeiden sollte, zu glauben, dass das
Proletariat immer im Recht ist. Und das aus dem einfachen Grund, dass das
Proletariat als «Subjekt»… nicht existiert (es gibt nur konkrete Individuen, die
unter anderem Proletarier sind) und daher weder Recht noch Unrecht haben kann.
Zeitgemäß sollten wir das Gleiche über Frauen, Schwarze, Homosexuelle,
Immigranten und Transgender sagen. Wenn wir die spezifische Unterdrückung
anerkennen, unter der Individuen leiden, die diesen Kategorien angehören,
bekämpfen wir sie nur dort, wo wir sie konkret sehen. Dabei verzichten wir
niemals auf unser autonomes Urteil und geben denjenigen, die sich dieser oder
jener verfolgten Gruppe der Menschheit anrechnen, keine Blankovollmacht. Das tun
wir nicht nur, weil wir unsere Freiheit genauso wertschätzen wie die eines jeden
anderen und deshalb selbst dem am meisten bedrängten und demütigten Individuum
der Welt nicht das geben würden, was in Wirklichkeit eine Delegation von Macht
ist. Wir tun es auch, weil wir sehr wohl wissen, dass, wenn festgelegt wird,
dass jemand aus welchen Grund auch immer mehr zählen muss als ein anderer, nicht
„die Unterdrückten“ davon profitieren, sondern ihre selbsternannten Vertreter.
Um uns verständlich zu machen, müssen wir uns mit dem unangenehmsten Teil der
Angelegenheit befassen. Wenn in unseren kleinen Gemeinschaften mehr oder weniger
begründete Vorwürfe sexuellen oder geschlechtsspezifischen Missbrauchs erhoben
werden, wird denjenigen, die etwas zu sagen haben, dogmatisch gesagt, dass «man
auf die Gefährtinnen hören muss». Nun enthält diese Aussage an sich schon eine
implizite Anschuldigung, die nicht unbedingt gerechtfertigt ist (man kann
durchaus auf «die Gefährtinnen» hören, aber nicht mit dem einverstanden sein,
was gesagt wird). Aber vor allem: Werden wirklich alle Gefährtinnen und Frauen
berücksichtigt? Unsere Erfahrung zeigt: Nein. Berücksichtigt werden nur die
Gefährtinnen und Gefährten (Männer), die mit den bereits definierten Positionen,
d. h. den Dogmen der neuen globalen Linken, übereinstimmen. Alle anderen Frauen
werden ignoriert, wenn sie nicht gerade als Komplizinnen ihres «verinnerlichten
Patriarchats» stigmatisiert werden. Bei näherer Betrachtung macht in dieser
neuen Kunst des Rechthabens nicht so sehr die konkrete Zugehörigkeit zu einer
diskriminierten Kategorie den Unterschied aus, sondern das Festhalten an der
Ideologie, die sie heilig spricht. Es ist die neue sensibilistische und
politisch korrekte Kirche, die verlangt, „angehört“ zu werden (d. h. in
Wirklichkeit eine starre und schematische Ausrichtung) … Von wegen die
«Gefährtinnen», die «Nicht-Weißen» oder die «Nicht-normierten Körper»!
Natürlich sind wir uns bewusst, dass sexuelle Gewalt in ihren verschiedenen
Formen nicht immer dem gängigen Bild der rein körperlichen Aggression
entspricht. Wir wissen, dass es auch in unseren Kreisen kleine und große Gewalt
gibt. Wir wissen, dass Frauen (aber man könnte das Spektrum auf viele andere
unterdrückte Gruppen ausweiten) auf große Schwierigkeiten, Widerstand und
Boykott stießen und oft stoßen, wenn sie Gewalt anprangern. Gleichzeitig sind
wir dafür, Missbrauch und Gewalt kollektiv anzugehen und, wenn nötig, auch
Sanktionen gegen die Verantwortlichen anzuwenden. Wir halten es beispielsweise
für legitim, dass eine Gemeinschaft jemanden aus einem bestimmten Raum oder
sogar aus einem ganzen Gebiet verweist, wenn seine Anwesenheit für eine Person,
die davon ernsthaft betroffen ist, unerwünscht ist. Ebenso ist es legitim, dass
sich ein Kollektiv weigert, sich mit jemandem zu organisieren, der durch sein
Verhalten das Vertrauen seiner Gefährten und Gefährtinnen beschädigt oder
verloren hat (sei es für eine bestimmte Zeit, bis zu einer entscheidenden
Klärung oder sogar für immer). Was wir jedoch verlangen, ist, dass alle
gleichberechtigt zu Wort kommen, die Anschuldigungen auf den Prüfstand gestellt
werden, soweit es die jeweilige Situation zulässt (es wäre beispielsweise
abscheulich, von denjenigen, die Gewalt erlitten haben, zu verlangen, dass sie
detailgetreu berichten, aber zwischen dem und einer Blankovollmacht des
Vertrauens gibt es quasi immer andere Möglichkeiten) und der vorgeworfenen
Person die Möglichkeit gegeben wird, sich zu verteidigen, auch indem sie die Tat
leugnet, wenn sie angibt, sie nicht begangen zu haben. Wenn diese einfachen
Instanzen, die von der Menschheit im Laufe der Jahrhunderte anerkannt und zu
gegebener Zeit dem absoluten Staat durch Kämpfe abgerungen wurden, einen
gewissen Anschein von „bürgerlichem Recht“ haben mögen, so ist zu bedenken, dass
die entgegengesetzten Kriterien uns nicht mehr und nicht weniger als zum
inquisitorischen Recht zurückführen, bei dem der einzige Weg zum Freispruch die
Anerkennung der Schuld war (heute, der Zeit entsprechend, «der Verantwortung»).
Man wird einwenden, dass solche Sachverhalte besonders schwierig zu beurteilen
sind, da sie – abgesehen davon, dass sie subtile zwischenmenschliche Dynamiken
infrage stellen – in der Regel in einem privaten und intimen Rahmen stattfinden,
in den niemand sonst Einblick hat. Das ist sehr richtig. Allerdings findet die
überwiegende Mehrheit der menschlichen Ereignisse, die Anlass zu Diskussionen
geben, abseits der Blicke anderer statt oder unter einigen wenigen Augenzeugen,
deren Aussagen sich möglicherweise widersprechen, da sie nur Hinweise auf den
Vollzug einer Handlung erhalten haben (man denke beispielsweise an eine
Situation, in der Geld verschwunden ist und nur eine bestimmte Person in der
Nähe gesehen wurde: Jemand sagt, man habe sie zu einer bestimmten Zeit oder in
einer bestimmten Haltung gesehen, jemand anderes in einer anderen, aber niemand
hat sie beim Stehlen gesehen); schäbige Gesten, die an einem öffentlichen Ort
oder vor zehn Zeugen stattfinden, die mehr oder weniger dasselbe bestätigen,
sind seit Menschengedenken eine Minderheit und erregen sofort allgemeine
Missbilligung. Nach welchen Kriterien entscheiden wir also in unsicheren
Situationen, ob jemand etwas begangen hat oder nicht? Im Allgemeinen stützt man
sich auf die Plausibilität, das heißt auf den Vergleich der Dynamik des
Sachverhalts mit ähnlichen Ereignissen, die zu anderen Zeiten und in anderen
Situationen erlebt, gesehen oder gehört wurden (mit einem Wort: auf vorherige
Erfahrung). Das ist nur durch das Anhören und Vergleichen “mehrerer Glocken”
möglich, wenn widersprüchliche Versionen vorliegen. Kann man bei der Anwendung
dieses Kriteriums Fehler machen? Sicherlich, und das wird seit jeher gemacht.
Wer jedoch unkritisch und um des Arguments willen nur einer Seite zuhört,
verschafft einigen Leuten das (tatsächlich reale) Privileg der Lüge, da er sie
von der Last befreit, glaubwürdige Behauptungen aufzustellen. Was auch immer man
dagegen einwenden mag (zum Beispiel, dass die Unterschiede in der
«Sozialisation» und Erfahrung zwischen Männern und Frauen es nicht erlauben,
bestimmte Nuancen vollständig zu erfassen), es beseitigt nicht die
unausweichliche Konsequenz (es sei denn, man argumentiert, dass Angehörige
unterdrückter Kategorien keine Hintergedanken haben können und nicht flunkern
können -– auch nicht sich selbst gegenüber. Was in diesem Zeitalter des fast
psychedelischen Subjektivismus ein besonders hohes Risiko darstellt).
Außerdem: Wie kann es sein, dass selbst bei erwiesenen Tatsachen fast
automatisch dieselbe Modalität angewandt wird (die Entfernung der Person und die
verbrannte Erde rund um diejenigen, die sich weiterhin mit ihr organisieren),
ohne dass die spezifische Schwere der Tat oder mögliche, vielleicht angemessene
Formen der Wiedergutmachung geprüft werden?
Nein, das wird unmöglich gemacht. Identitätsaktivisten sind nämlich überhaupt
nicht daran interessiert, bessere Wege des Zusammenlebens zwischen Menschen zu
finden, sondern nur daran, die Welt von allem zu säubern, was ihnen nicht genehm
ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass bestimmte Kreise seit einiger Zeit
vom Versuch, bestimmte Personen auszulöschen, zur cancel culture von Ideen und
deren wichtigsten Trägern, den Büchern, übergegangen sind. Es gibt tatsächlich
Leute, die regelrechte Kampagnen gegen mehr oder weniger der „Bewegung”
angehörende Verlage, Editionen und Distributionen gestartet haben (entweder,
weil sie von wegen Missbrauchsvorwürfen Personen herausgegeben werden, oder weil
sie Texte veröffentlichen, die als «problematisch» angesehen werden). Sie haben
Schwarzlisten gegen Autoren und Autorinnen erstellt, die jeweils als
transfeindlich, homophob oder sexistisch angesehen werden – aufgrund einer
verzerrten Interpretation mancher Texte, der Teilnahme an von anderen
„Beschuldigten” organisierten Veranstaltungen oder sogar wegen der einfachen
Rezension von Texten anderer. Gleichzeitig wissen wir von einigen Gefährten die
nie wegen Gewaltvorwürfen aufgefallen sind, denen jedoch aufgrund ihrer
kritischen Haltung gegenüber der LBGTQ+ Bewegung der Vorwurf der «Transphobie»
gemacht wurde und die deshalb in bestimmten Kontexten nicht mehr auftreten
dürfen. Während wir uns verwundert fragen, seit wann sich Anarchisten für die
Verteidigung von Reformisten einsetzen, ist diese Position aufgrund ihrer
politischen und intellektuellen Unehrlichkeit einfach nur erschreckend. Die
LGBTQ+-Bewegung ist genau genommen eine politische Bewegung, die, obwohl sie
spielt, alle homosexuellen und transgender Menschen zu vertreten, in
Wirklichkeit nichts anderes als sich selbst vertritt. Zu behaupten, dass
diejenigen, die den Autoritarismus einiger queerer Kreise kritisieren, homophob
oder transphob sind, ist dasselbe, wie zu behaupten, dass diejenigen, die Black
Lives Matter kritisieren, deshalb Rassisten sind. Das ist nichts anderes als
Politik im schlimmsten Sinne des Wortes.
Es tut uns leid, aber hinter all dieser (und zunehmenden) Anklage- und
Verfolgungswut, durch die immer mehr Gefährten aufgrund immer „gewagter” und
fantasievoller Vorwürfe ihr Leben ruiniert sehen, können wir nicht nur einen
ehrlichen Willen erkennen, sich gegen Sexismus und Schikane zu wehren oder seit
lang verschwiegenen Forderungen Gehör zu verschaffen. Wir sehen darin auch eine
Übernahme jener Kultur der Bestrafung, die in anderen Bereichen als
Justizialismus bezeichnet wird: den Unglückseligen (ob er nun tatsächlich
„schuldig” oder „unschuldig” ist) zu bestrafen, um allen anderen gegenüber ein
Exempel zu statuieren. Darin sehen wir auch ein Verlangen nach Macht und
Kontrolle. Vor allem aber sehen wir ein autoritäres und reaktionäres Gift, das
von den US-amerikanischen Universitäten und anderen Machtzentren langsam in den
Anarchismus eingedrungen ist und von innen heraus droht, ihn auszulöschen
(während die Repression von außen weiterhin zuschlägt), indem es seine
Prinzipien umkehrt und gleichzeitig vorgibt, sie zu radikalisieren. Wenn es ein
Konzept gibt, das alle Anarchisten teilen, dann ist es, dass Autorität die
Neigung der Menschen ist, sich gegenseitig zu unterdrücken, und dies durch die
Autorität nicht eingeschränkt wird, sondern hingegen verschärft wird und sich
strukturell verankert. Allerdings ist die Abschaffung der Autorität und damit
die Freiheit kein Allheilmittel, das die unterdrückte Menschheit von allen Übeln
befreien wird. Sie ist vielmehr «der offene Weg zu jeder Verbesserung»
(Malatesta): ein Wendepunkt und ein Anfang – und gerade deshalb notwendig. Auch
wenn sie sich libertär und ultraradikal gibt, argumentiert die postmoderne und
identitäre Linke genau umgekehrt. Es gibt keinen Ausweg aus dem gegenwärtigen
Elend, sondern nur einen ewigen Kampf zwischen (gefühlt) unterdrückten
Subjektivitäten innerhalb eines verzweigten und allgegenwärtigen Netzwerks von
Mikromächten, das nur in einer Art negativer Gegenseitigkeit etwas Ruhe finden
kann: Anstelle des Prinzips „Ich tue, was ich will, in dem Maße, in dem du tun
kannst, was du willst” gilt hier das Credo „Ich werde nicht tun, was ich will,
solange du nicht tust, was du willst”. Kurz gesagt, eine endlose Reihe von
Verboten. Das ist an einigen von der jüngeren Generation besetzten Universitäten
sehr gut zu sehen. Anstelle von aufrührerischen Flugblättern finden sich dort
immer häufiger Aufforderungen, dies oder jenes nicht zu tun, zusammen mit
Hinweisen, wie man das Care-Team erreichen kann, wenn man sich nicht genug safe
fühlt. Ein im Wesentlichen hobbesianisches Modell: Wenn Individuen, die nach
Jahrhunderten des «weißen Heteropatriarchats» zu Wölfen geworden sind, in einen
Krieg aller gegen alle versinken, dann muss man Kunstgriffe erfinden, um sie in
Schach zu halten: die ewige Rechtfertigung der Polizei. Während Anarchisten seit
jeher die Notwendigkeit betonen, die gegenwärtige Gesellschaft zu zerstören, um
die Entwicklung der Individuen zu ermöglichen und sie so, wie sie sind, zu
befreien, behauptet die identitäre Linke, die Gesellschaft durch eine
Veränderung ihrer Sitten zu verändern, mit dem Anspruch, vom Individuum zu den
sozialen Beziehungen vorzugehen und nicht umgekehrt. Reiner reaktionärer Scheiß,
würdig der Kirchenväter oder des calvinistischen Genfs des 16. Jahrhunderts.
Fällt das Prinzip der Gegenseitigkeit weg, fallen auch die Grundlagen der
Selbstorganisation der Klasse und der Klassenkampf selbst weg. In dieser
Hinsicht ist es bezeichnend, dass Bildung, die eine tiefe Kluft zwischen den
Klassen schafft, niemals zu den «Privilegien» gehört, die von den Identitären
aufgezählt werden, und das, obwohl sie nicht nur in Bezug auf den Zugang zu
Arbeit eine Rolle spielt. Vor Jahren erzählte uns eine Gefährtin, die viele
Jahre im Gefängnis verbracht hatte, wie groß im Knast der Unterschied ausmachte,
ob man „gebildet” war oder nicht, sowohl was die Kenntnis der eigenen
gesetzlichen „Rechte” als auch die Fähigkeit betraf, sich gegenüber den Behörden
zu behaupten. Berücksichtigt man ihre universitäre Herkunft und die Übernahme
ihrer Grundsätze durch Personen, die die Universität besuchen oder besucht
haben, kann dieses Fehlen unter Studies, die sich mit allen möglichen
Bedingungen und Schikanen befassen, wirklich zufällig erscheinen? (Damit hoffen
wir, nicht unbeabsichtigt den Anstoß zu einer neuen Verfolgungsströmung zu geben
oder jemanden dazu zu bewegen, sein Studium auf franziskanische Weise
aufzugeben. Kulturelle Mittel sind durchaus notwendig! Und wie andere Mittel
auch sollten sie nicht abgeschafft, sondern für die Kämpfe und unserer Klasse
zur Verfügung gestellt werden). Wenn bestimmte Ideologien in „Bewegungskreise“
eindringen und schließlich auch mehr oder weniger proletarische Jugendliche
erreichen, werden sie in der Regel von der Mittelschicht und insbesondere von
deren kognitiver Variante gefördert und übernommen. Diese will die Welt nicht
verändern, sondern zivilisierter machen: Daraus ergibt sich die Ausblendung des
Problems der Bildung, die oft mit einer Verachtung gegenüber dem Proletariat
einhergeht (insbesondere dem weißen, das groteskerweise als «privilegiert»
angesehen wird), das die Sprache und die Kategorien des linken „Kognitariats“
nicht übernehmen kann oder will, während sich Letzteres als authentisches Modell
des globalen Bürgers versteht und präsentiert – wie er sein sollte. Wenn diese
grundlegende Indifferenz in Bezug auf Klassenfragen uns eines zeigen sollte,
dann, wie wenig den Identitär-Theoretikern die Verdammten dieser Erde wirklich
am Herzen liegen. Es ist kein Wunder, dass sie nicht bemerken (bemerken sie es
wirklich nicht?), wie sehr ihre Ideologie einerseits die Möglichkeiten der
Ausgebeuteten, sich zu organisieren, untergräbt und andererseits den
Securitarismus der Herrschenden stärkt. Wie kann man sich gemeinsam
organisieren, wenn man eine schizophrene Sichtweise vertritt, nach der die
eigenen Gefährten gleichzeitig als Komplizen und (wenn überhaupt-) potenzielle
Feinde betrachtet werden, die durch die Erbsünde ihrer mehr oder weniger
angeborenen «Privilegien» gekennzeichnet sind? Was, wenn persönliche Qualitäten
– Engagement, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Mut in seinen verschiedenen
Formen, die Fähigkeit zu denken und zu argumentieren sowie die Übereinstimmung
mit dem, was man verkündet – als bloße Mittel der Überwältigung disqualifiziert
werden? Wenn keine gemeinsame Entscheidung getroffen werden kann, ohne dass das
Gespenst der «Überdeterminierung» heraufbeschworen wird? Wenn man aufhört,
Gleichheit als Grenzkonzept zu betrachten (den Raum, der den Ausdruck von
Unterschieden ermöglicht und in dem zwangsläufig auch einige Ungleichheiten zum
Vorschein kommen), kann das Ergebnis nur Lähmung und allgemeines Elend sein. In
diesem Zustand werden die Unterschiede – also das, was den Reichtum jeder
Gemeinschaft ausmacht – im Namen eines abstrakten und disziplinierenden
Egalitarismus vernichtet (während in orwellscher Weise diejenigen herrschen, die
behaupten, «gleicher als andere» zu sein).
Sicherlich ist auch der „Klassismus“ auf seine Weise identitär, aber es handelt
sich dabei um eine ganz andere Art von Identität als die verschiedenen
Identitarismen von Geschlecht, „Rasse“ usw., denn er eröffnet ganz andere
Möglichkeiten. Ohne zu leugnen, dass auch die Geschlechterfrage und die
Hautfarbe eine Rolle bei der Gestaltung von Machtverhältnissen, Unterdrückung
und Ausbeutung (sowie in der Gesamtwirtschaft der gegenwärtigen kapitalistischen
Herrschaft) spielen, ist nur die Klassenzugehörigkeit in der Lage, eine
universelle Befreiung zu ermöglichen. Sie schafft einen vertikalen Bruch, in dem
die Befreiung von Frauen, Homosexuellen und Transsexuellen, „internen“ und
„externen“ (post-)kolonialen Minderheiten usw. verwirklicht werden kann, ohne
dass sich neue Macht- und Herrschaftskonfigurationen bilden. Ausgebeutet zu
werden, hat nämlich mindestens zwei Aspekte, die sich vom Frausein, Schwarzsein
usw. unterscheiden. Der erste Aspekt ist, dass es sich um einen rein sozialen
Zustand handelt, der nicht mit physiologischen Merkmalen zusammenhängt: Solange
es eine auf Ausbeutung basierende Gesellschaft gibt, wird man ausgebeutet; mit
dem Ende von Rassismus und Sexismus würde man aufhören, als Männer und Frauen
«sozialisiert» und als Schwarze «rassifiziert» zu werden, aber man würde nicht
aufhören, Männer, Frauen und Schwarze zu sein. Der zweite Aspekt ist, dass
Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung usw. sind Merkmale, die (natürlich
mit Ausnahmen) die meisten Menschen in einem Befreiungsprozess nicht verlieren
möchten, sondern ohne die damit verbundenen Diskriminierungen, Demütigungen und
Stereotype verkörpern möchten. Das heißt, diese Merkmale sind an sich nicht
unerwünscht, während niemand (abgesehen von arbeitswütigen Stakhanovisten)
ausgebeutet bleiben möchte. In ihrer bloßen Negativität, deren letztendliches
Ergebnis die Selbstauslöschung der ausgebeuteten Klasse ist, wenn diese die
ausbeutende Klasse auslöscht, verwirklicht nur die Linie der Klasse einen
nicht-abstrakten Humanismus. Das bedeutet keine Gleichsetzung von Ausgebeuteten
und Ausbeutern im Namen der allgemeinen „Menschlichkeit“; es ist vielmehr ein
Prozess, der eine andere Menschheit formen kann. So wird Raum für die Befreiung
aller eröffnet, während das System an seiner empfindlichsten Stelle getroffen
wird. An dieser Stelle kann es höchstens zurückweichen, sich aber nicht neu als
Ausbeutungssystem erschaffen. Ein Kapitalismus ohne Rassismus, Sexismus und
sogar ohne Geschlechter und „rassische” Unterschiede könnte zumindest abstrakt
existieren, eine klassenlose Klassengesellschaft hingegen nicht.
Transfeminismus, „kritische Rassentheorie“ usw. neigen dazu, den fast absoluten
Antagonismus des Klassismus, der möglich ist, weil er auf rein sozialen
Unterschieden basiert, auf Unterschiede anzuwenden, die in Wesen verkörpert sind
(in der Sprache der Philosophie: ontologisch) und/oder die konkrete Individuen
nicht unbedingt loswerden wollen (und sollten). Das Ergebnis ist fast immer ein
Durcheinander, in dem ein gewisser Rückfall in den Rassismus zum Vorschein
kommt. Dabei werden bestimmte Individuen (Männer und in der Folge
Heterosexuelle, Weiße, „Ablierte“ usw.) für das, was sie sind, und nicht für
das, was sie tun, grundlegend disqualifiziert. Dieselben Personen werden dabei
einerseits als unterdrückt und potenziell Komplizen anerkannt, andererseits
aber, sobald ein Konflikt auftritt, als „Kategorienfeinde“ behandelt, gegen die
man die Reihen der „Eigenen“ schließen muss. Das bedeutet nicht, dass Konflikte
anderer Art als Klassenkonflikte nicht existieren oder niemals offen ausgetragen
werden sollten – wenn nötig, auch mit Härte (wir betonen nochmals: Wir heiligen
keine schwieligen Hände). Was wir kritisieren, ist die Art und Weise, wie sie
betrachtet und behandelt werden, die spezifische Merkmale haben sollte. Wenn man
nicht in der Lage ist, diese Unterscheidungen zu treffen, sind die Folgen
katastrophal. Bei einem Arbeitskampf in einer Fabrik oder einem Lagerhaus stehen
wir immer auf der Seite der Arbeiter. Es ist uns egal, wer die „Wahrheit“ sagt
(unter uns können wir zwar sagen, dass die Arbeiter Unsinn reden, aber das
bleibt eine unter uns bleibende Angelegenheit, über die wir höchstens auf dieser
Seite des Tors diskutieren). Können wir dasselbe sagen, wenn der Konflikt
zwischen einem Gefährten (einem Ausgebeuteten, einem Freund) und einer Gefährtin
(einer Ausgebeuteten, einer Freundin) entsteht? Oder, in einer Kettenreaktion,
zwischen einem homosexuellen (oder transsexuellen oder schwarzen) Gefährten und
einem heterosexuellen (oder cis oder weißen) Gefährten? Wenn ein Herrscher oder
eine Regierung einen Fehltritt begeht – der ihnen auf die eine oder andere Weise
öffentliche Missbilligung einbringt – ist es absolut sinnvoll, sie anzugreifen
und daraus das zu gewinnen, was für den Fortschritt des Kampfes gewonnen werden
kann, ohne zu sehr darüber zu diskutieren, wie „schwerwiegend” das, was sie
begangen haben, tatsächlich ist. Kann man dasselbe sagen … usw.?
Die mechanische Anwendung von Logiken, die typisch für den Klassenkampf sind,
auf Konflikte anderer Art führt letztendlich zum Tod des Befreiungskampfes.
Durch die Aufsplitterung in eine Reihe von Mikrokonflikten, die zudem leicht
logischen Kurzschlüssen ausgesetzt sind (wer ist unterdrückter, ein
„nicht-weißer Cis-Heterosexueller” oder eine „weiße Transgender-Frau”? Auf
wessen Seite würde man sich im Falle einer Auseinandersetzung stellen?), wird
der vertikale Konflikt (Ausgebeutete gegen Ausbeuter, Revolutionäre gegen Staat)
von einem ewigen horizontalen Konflikt verschlungen. Ein Paradigma, das übrigens
(sind wir die Einzigen, die das bemerken?) einer Art linkem Gegenstück zum Krieg
der Armen untereinander ähnelt, der seit Jahren von den Rechten geschürt wird.
Und das, indem es Safety statt Sicherheit ausübt, trägt es zu denselben Zielen
der sozialen Befriedung bei (Rechte für alle und überall, Freiheit für niemanden
und nirgendwo). Der Wunsch, in seiner Isolation vor seinen Mitmenschen geschützt
und abgesichert zu sein, die zunehmend als andersartig wahrgenommen werden,
ersetzt die Dringlichkeit, sich gemeinsam mit allen anderen zu befreien.
Bevor wir diese Reihe von Überlegungen abschließen, möchten wir einen Punkt
klarstellen, um mögliche (und wohl auch listige) Missverständnisse zu vermeiden.
Die oben genannten Kritikpunkte können nicht mechanisch und in vollem Umfang auf
alle identitätsorientierten Gruppen angewendet werden. Uns geht es darum,
Tendenzen zu beschreiben, und in diesem Sinne sind diese Überlegungen zu
verstehen. Ebenso wollen wir – im Gegensatz zu anderen – nicht allen, die sich
auf unterschiedliche Weise identitären und postmodernen Ideologien und Ansätzen
anschließen, die Schuld für alle Fehlentwicklungen geben, die die
antagonistischen Bewegungen in den letzten Jahren durchlaufen haben (von der
Befürwortung der Gesundheits- und Covid-Sicherheitswahn bis zur Unterstützung
eines nicht existierenden „Widerstands” im Krieg in der Ukraine). Wenn das für
diese Ideologien typische Opferbewusstsein im Ausland einen „großzügigen“
Beitrag zu diesen Fehlentwicklungen geleistet hat (siehe die internationale
Versammlung in Saint-Imier im Jahr 20231), so waren ähnliche Entgleisungen oft
ideologie- und gruppierungsübergreifend (man fand sie beispielsweise bei
Gruppierungen verschiedener marxistischer oder libertärer Ausrichtung , die
wenig oder gar nichts mit dem postmodernen Identitarismus zu tun haben). In
Italien, vor allem im anarchistischen und libertären Bereich, gab es hingegen
eine gesunde Abkehr in die entgegengesetzte Richtung, die verschiedene Welten
durchlief, darunter auch einige queere und transfeministische Kreise. Wir freuen
uns auch auf internationaler Ebene – wir denken dabei vor allem an die
Vereinigten Staaten – feststellen zu können, dass die Versuche der Machthaber,
Distanz zum palästinensischen Widerstand zu schaffen, indem sie das
Schreckgespenst des „religiösen Obskurantismus” und der angeblichen
„Vergewaltigungen durch Hamas” (eine Fake News, auf die anfangs einige
hereingefallen sind und andere weiterhin hereinfallen) heraufbeschwören,
gescheitert sind. Ebenso erfreulich ist, dass viele Gefährtinnen und Gefährten
aus dem transfeministischen, intersektionalen usw. Umfeld sich mit Leib und
Seele auf die Seite der unterdrückten Palästinenser gestellt haben (mit dem
Segen der Papstin Judith Butler). Angesichts dieser einfachen Feststellungen
erscheinen uns bestimmte allzu manichäische Analysen für die verwirrende,
komplexe und sich ständig verändernde Realität unserer Zeit als unangemessen,
sodass wir sie nicht für uns beanspruchen. Was wir stattdessen vorschlagen
möchten, ist etwas Subtileres, das mit der Art und Weise zu tun hat, wie Ideen
auf sozialer und individueller Ebene wirken und Menschen auch dorthin führen, wo
sie eigentlich nicht hinwollen. Wenn man anfängt, auf eine bestimmte Weise zu
denken, sagte Malatesta weiter, geht man nicht dorthin, wo man hin will, sondern
dorthin, wohin einen das Denken führt. Ein Beispiel kann verdeutlichen, was wir
meinen.
Es scheint kein bloßer Zufall zu sein, dass sich nicht nur der Markt und die
Unterhaltungsindustrie, sondern sogar Institutionen und Strafverfolgungsbehörden
eine vom Woke-Identitarismus inspirierte Rhetorik zu eigen gemacht haben. Diese
verschafft ihnen wertvolle Vorteile in Bezug auf die soziale Kontrolle (die mit
der «Verteidigung der Frauen» gerechtfertigte Militarisierung, automatische
lebenslange Haftstrafen für «Femizide», aber auch immer häufigere
Polizeieinsätze in Schulen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, «Mobbing»,
«Ableismus» usw., begleitet von Scharen von Psychologen, auf der Jagd nach
Unsicherheiten, Unbehagen… und Kunden). Dass viele (Trans-)Feministinnen
erwidern, die meisten Vergewaltigungen würden in Wirklichkeit zu Hause und durch
bekannte Personen begangen, oder dass sie solchen Instrumentalisierungen die
Präsenz und direkte Selbstverteidigung von Frauen auf der Straße oder die
Anprangerung des «patriarchalen» Charakters der Polizei und sogar des «Systems»
als Ganzes entgegenhalten, erscheint uns zwar durchaus lobenswert, aber
angesichts einer allgegenwärtigen Propaganda, die immer mehr Menschen
(insbesondere sehr junge Menschen) direkt auf ihren Smartphones erreicht, auch
unzureichend; eine Propaganda, die immer mehr Gruppen (Frauen, Homosexuelle,
Transsexuelle, „Farbige”, Menschen mit Behinderungen, „Neurodivergente” usw.)
dazu bringt, sich ständig von denen angegriffen zu fühlen, die ein paar
«Privilegien» mehr (oder ein paar Probleme weniger) haben. Vor einigen Jahren
wurden in Frankreich anarchistische Gruppen angefeindet, weil sie ihre
Intoleranz gegenüber allen Religionen proklamierten und praktizierten. Sie
wurden als «islamfeindlich» gebrandmarkt2. Währenddessen findet in verschiedenen
Gebieten der Vereinigten Staaten im Bestreben, die Interessen der „Minderheiten”
zu vertreten und sie vor den Gefahren der „Privilegierten” zu schützen, de facto
eine Rückkehr zur Rassentrennung statt, mit getrennten Schulen und Klassen nur
für Schwarze3. Wäre es nicht sinnvoll, tiefer darüber nachzudenken, bevor es zu
spät ist? Leider – und hierfür müssen wir den Großteil der von der
Identitärskrankheit befallenen Realitäten ins Spiel bringen – wird systematisch
das Gegenteil getan: Sobald jemand Fragen aufwirft, die für ihre Ideologien oder
einen ihrer Verbündeten unangenehm sind, stürzen sich die Identitär-Aktivisten –
mit stillschweigender Zustimmung ihrer „gemäßigten” Freunde – auf ihn und zeigen
mit dem Finger auf diesen oder jenen unglücklichen Ausbruch, dieses oder jenes
Wort oder dieses oder jenes fehlplatzierte Komma (wobei man oft schamlos und
nach Bedarf vermischt, was man in Ruhe an seinem Schreibtisch schreibt, mit dem,
was einem in der Hitze einer Diskussion oder bei einem Glas Wein herausrutscht).
So vermeiden sie es, sich mit den Fragen selbst auseinanderzusetzen. Was hier
tatsächlich zum Einsatz kommt, ist eine Reihe von Mechanismen, die sowohl das
Diskutieren als auch das Denken verhindern (auf Dauer stirbt das Denken ohne die
Möglichkeit der Gegenüberstellung).
Das ist die kirchliche Atmosphäre, die wir schon viel zu lange atmen müssen und
die uns bis über beide Ohren reicht. Das ist es, was wir anprangern, unabhängig
vom Anlass, der zu dieser Anprangerung geführt hat. Das Problem ist für uns
nicht so sehr, dass diese Reihe von Mechanismen, die zur Ideologie geworden
sind, in unseren Kreisen zu einer Vielzahl von Streitigkeiten geführt hat (wenn
auch nicht immer nutzlos oder unbegründet, so doch fast immer schlecht
gehandhabt), sondern dass sie dem kritischen Denken tödliche Schläge versetzt
und damit einen regelrechten Prozess des ethischen, kognitiven und spirituellen
Verfalls ausgelöst hat. Was für ein moralisches und intellektuelles Umfeld kann
entstehen, wenn man aufhört, über Fakten nachzudenken, und stattdessen einem
ungezügelten Subjektivismus freien Lauf lässt, der gleichzeitig in starren
Kategorien gefangen ist und zu wahnwitzigen Dogmen führt (wahnsinnig wie alle
Dogmen, deren Wesen darin besteht, dass man an sie glauben muss, obwohl sie
unverständlich bleiben), wie «Gewalt ist das, was eine Person als solche
empfindet» (und «Gewalt» kann man nach Belieben durch «Überdeterminierung»,
«Macht» usw. ersetzen)? Hegel sagte, die Innerlichkeit ohne Äußerlichkeit sei
leer. Ohne die begegnende Auseinandersetzung mit der Realität als Moment ihrer
Überprüfung, also ohne deren Existenz und die Möglichkeit ihrer Erforschung,
wird die Subjektivität zu nichts anderem als einem fortwährenden Wirbelwind aus
Empfindungen, Emotionen, Wahrnehmungen (und Paranoien). Sind in dieser
historischen Phase die Individuen im Allgemeinen durch den grassierenden
Ultra-Subjektivismus (und die informatische Entmaterialisierung der Realität)
zunehmend zu Individuen ohne Welt gemacht worden und wirkt jede ideologische
Einrichtung wie ein Filter, der bestimmt, welche Menschentypen sich bestimmten
Kreisen annähern oder von ihnen entfernen, dann ist es unvermeidlich, dass sich
dort, wo die Woke-Paranoia herrscht, gerade die inkonsequentesten,
unüberlegtesten und tendenziell nachtragendsten Menschentypen den „Bewegungen”
annähern und sich ihnen immer mehr annähern werden. Diejenigen, die wenig zum
Nachdenken neigen, aber sehr zum Jammern; diejenigen, die keine ernsthaften
Anstrengungen unternehmen wollen, um die (wahre) Macht zu identifizieren und zu
bekämpfen, und die den billigen Kampf gegen die überall verbreitete „Macht” sehr
lieben…vor allem aber in ihrer Nähe. Diejenigen, die eine Gruppe suchen, die
sich um ihre schlechte Laune kümmert, anstatt jede Gemeinschaft herauszufordern
und daher jene Gemeinschaften zu bereichern, die frei gewählt werden, mit der
Originalität ihrer eigenen Spannungen und Ideen. Diejenigen, die keine
unwiederholbaren Individuen sein wollen – und daher unmöglich auf irgendeine
Kategorie zurückführbar sind –, sondern eben Subjekte.
In diesem Wettlauf um die Vernichtung der Realität und der denkenden
Individualität, in dem der Autoritarismus eine willkommene Heimat findet und in
dem Relikte der Reaktion in neuer Form wiederaufleben, machen uns Ereignisse wie
das in Mailand und andere, die unserer Versammlung in ihrem anderthalbjährigen
Bestehen widerfahren sind (die jedoch glücklicherweise glimpflicher ausgegangen
sind), traurig. Sie überraschen uns jedoch nicht. Autorität und Autoritarismus
erniedrigen Menschen stets und verschlechtern immer die Beziehungen. Es ist
daher nicht verwunderlich, dass in dieser Mitternacht des Jahrhunderts alle
Türen für kleine Torquemadas und prinzipienlose Opportunisten weit offenstehen,
während sie denen verschlossen sind, die darauf bestehen, klare Worte über eine
Gegenwart zu sagen, die viel tragischer als ernst ist.
Inmitten all dieser reaktionären Scheiße machen wir weiter, mit unseren
Prinzipien fest in der Hand.
Italienische Halbinsel, Frühjahr 2025
Cinque piccoli indiani fuori dalla riserva [Fünf kleine Indianer außerhalb des
Reservats]
1 Einen Überblick (auf italienisch) über die Ereignisse dieser Veranstaltung
findet man im Text „Grosso guaio a St Imier” (Big Trouble in St. Imier) auf dem
Blog der Radiosendung „La nave dei folli” unter folgendem Link:
https://lanavedeifolli.noblogs.org/files/2023/09/Grosso-a-guaio-a-St-Imier.pdf
2 Siehe beispielsweise
https://danslabrume.noblogs.org/post/2023/07/24/anti-anti-racialisme/
3 Siehe Yascha Mounk, La trappola identitaria [Die Identitätsfalle],
Feltrinelli, Mailand 2024